Erstmal den Mann auf dem Gabelstapler fragen, wo man eigentlich ist. Im Industriegebiet an der Georg-Knorr-Straße gibt es nur eine Hausnummer, nämlich die Vier, dafür viel roten Backstein, viele Schranken, kryptische Hinweisschilder – und sehr wenige Gründe,
überhaupt hier zu sein. Früher wurden im Werk nahe des S-Bahnhofs Marzahn die berühmten Knorr-Bremsen hergestellt, heute sind auf dem Gelände Logistikund Karosserie-Firmen untergebracht. Wenn einen der Gabelstaplermann aber zum Haus 10 schickt, einem denkmalgeschützten Teil der Anlage, und Tim Müller die Tür des Flachbaus öffnet, glänzt und duftet plötzlich alles: nach Zitrusfrüchten und Dekadenz.
Mit seinem Team betreibt Müller, passend zur Einrichtung gekleidet in Schwarz, eines der spannendsten Labore der Stadt. In seiner Deutschen Spirituosen Manufaktur stellt er Geiste, Brände, Liköre, Gin und Vodka her. Als während des Lockdowns die Umsätze einbrachen, sattelte er auf Hand-Desinfektionsmittel um, hergestellt nach WHO-Rezeptur, veredelt mit Rosmarin-, Mandarinen- oder Lavendelduft. Müller und sein Team sind nicht nur Brenner, sondern auch Erfinder, nicht zuletzt Pioniere im Marzahner Industrie-Outback.
Die Idee von der Manufaktur entstand, als der Fotograf und Betriebswirt Müller 2013 gemeinsam mit dem ausgebildeten Apotheker Konrad Horn einen Weinkurs in Südafrika besuchte. Neben den Gründern gehört mit Marvin Plattner heute ein ausgewiesener Barmann zum Betrieb, der den Kunden – von Ritz Carlton bis Schloss Bellevue – nahelegt, wie die Spirituosen am besten zu verwenden seien. Dorina Lücke kümmert sich um den Rohstoffeinkauf: Die Manufaktur, erklärt Müller, arbeite überwiegend mit Bio- und Demeter-Bauern zusammen, etwa mit kleinen Familienbetrieben auf Sizilien oder Mallorca. Norbert Madroß, der Destillateur, sitzt währenddessen draußen vor der Tür und befreit rund 5.000 Birnen von ihren Stilen. Die kommen nämlich nicht in die Maische, weil sie das Fruchtaroma verfälschen würden. Auf dem Boden trocknen duftende Kerne: Wo Madroß heute Birnen zermatscht, wurde gestern noch Yuzu verarbeitet, eine japanische Zitrusfrucht. Preis: 80 Euro pro Kilo. Müller will alles: Bodenständigkeit und Exklusivität.